DEGENERIERT DER STANDORT DEUTSCHLAND LANGSAM ZUM INDUSTRIEMUSEUM?
RAFAEL LAGUNA DE LA VERA: Diese Frage höre ich heute in Wirtschaftskreisen immer häufiger und mit einem zunehmend pessimistischen Unterton. Um sie zu beantworten, lohnt ein Blick zurück in die Phase unseres Landes, in der wir die meisten Innovationen zu neuen Industrien entwickelt haben, die sogenannte Gründerzeit, die 1871 begann. Innovatoren wie Robert Bosch, Gottlieb Daimler, Friedrich Bayer und Alfred Krupp haben Industrien wie Pharma, Automobil, Chemie und Stahl begründet und daraus die Wirtschaftsnation Deutschland gebaut. Nach Krieg und Wiederaufbau haben wir diese weiterentwickelt, auch mittelständische Hidden Champions
entstanden. Davon leben wir bis heute.
BERIT DANNENBERG: Allerdings erleben wir gerade, wie die Gründerzeitinnovationen langsam auslaufen. Selbst in der Automobilindustrie scheinen uns mittlerweile andere zu zeigen, wie’s geht. Das gibt durchaus Anlass zur Sorge. Dennoch sind wir nach wie vor ein hochinnovatives Land. Wir haben großartige Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, schaffen es jedoch nicht mehr, aus den Erkenntnissen und Erfindungen neue Unternehmen und Industrien zu machen, die volkswirtschaftlichen Nutzen stiften.
EINE URSACHE DAFÜR LIEGT WOHL IN DER GERINGEN DURCHLÄSSIGKEIT VON WISSENSCHAFT, WIRTSCHAFT UND POLITIK.
BD: So ist es. Es gibt keinen nennenswerten Karrierepfad von der Wissenschaft in die Wirtschaft. Für Menschen aus der Wirtschaft wiederum existieren kaum Incentives, in die Politik oder öffentliche Verwaltung zu wechseln – und umgekehrt. Unter den Bundestagsabgeordneten finden sich jeweils nur eine Handvoll Quereinsteiger, also Unternehmer:innen und Wissenschaftler:innen.
RL: In den USA ist das ganz anders. Bei meinem Aufenthalt an der Universität Harvard hat mich überrascht und begeistert, dass gefühlt 70 Prozent der Professor:innen im Business-Bereich der Uni Unternehmer oder Managerinnen waren, die in den letzten zehn Jahren ihrer Karriere ihr Wissen weitergeben. In Deutschland wäre das undenkbar. Ohne Promotion, trotz 40 Jahren unternehmerischer Erfahrung, wird bei uns niemand ordentliche:r Professor:in.
DIE SCHLECHTE NACHRICHT LAUTET DAHER: WIR SIND NICHT GUT IM INDUSTRIALISIEREN UNSERER TECHNOLOGIEN.
RL: Entsprechend liegen wir im internationalen Innovationsranking aktuell auf einem ordentlichen achten Platz, sind jedoch nicht mehr Weltspitze. Die gute Nachricht lautet: Wir haben nach wie vor jede Menge kluger Köpfe, die ihre Erfindungen in die Welt bringen wollen. Wir verfügen über herausragende Wissenschaftler:innen, die gleichzeitig erfolgreiche Unternehmer:innen sind. Ein Paradebeispiel sind Özlem Türeci und Uğur Şahin, die den Impfstoff BNT162b2 gegen das Corona-Virus entwickelt haben. Wie bei den BioNTech-Gründern handelt es sich bei Innovatoren auffällig häufig um Menschen mit Migrationshintergrund – die oft unkonventionell agieren müssen, wenn sie in unserer Gesellschaft erfolgreich sein wollen.
ABER DIE GRÜNDER VON MORGEN SIND DA, SIE LEBEN UNTER UNS. WIR MÜSSEN IHNEN NUR EINE PLATTFORM GEBEN. DAFÜR GIBT ES AUCH DIE SPRIND.
BD: Unsere wesentliche Aufgabe lautet, aus unseren Innovationen wieder Industrien zu formen, die künftigen Wohlstand sichern. Sprunginnovationen zeichnen sich im Gegensatz zu normalen
Innovationen dadurch aus, dass sie nicht lediglich Verbesserungen des Existierenden sind. Kommt eine Sprunginnovation in die Welt, ist diese – die Welt – danach merklich anders als zuvor. Wenn es uns gelingt, die Siloisierung
unserer Systeme zu überwinden, wird die Wirtschaftsnation Deutschland eine enorme Kraft entwickeln. Wir bei SPRIND sind so etwas wie ein Reallabor dieser Transformation.
RL: Mit KI erleben wir gerade das In-die-Welt-Kommen
einer Plattform für Sprunginnovationen, auch das Internet und die mRNA-Impfstoffe gehören in diese Kategorie. Mit SPRIND wollen wir solche vielversprechenden Innovationen identifizieren und mithelfen, diese auf die Straße zu bringen. Daneben analysieren wir die wesentlichen Systemhemmnisse für Innovation und überlegen, wie man unsere Leistung verallgemeinern und Translation zum gesellschaftlichen Standard machen könnte.
BD: Ein Beispiel dafür ist der heute noch sehr schwierige IP-Transfer von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen in die Wirtschaft. Noch ist es für Sciencepreneure
an den Universitäten oftmals unglaublich mühsam und zeitraubend, ihr Intellectual Property (IP) in ein Unternehmen zu übertragen und wirtschaftlich zu nutzen. Nicht wenige geben nach zwei, drei Jahren Verhandlungen entnervt auf oder müssen Verträge abschließen, die die Weiterentwicklung des Start-ups behindern. Um diese Hemmnisse zu überwinden, haben wir mit 17 Hochschulen und Forschungseinrichtungen Bewertungsmodelle und Musterverträge für einen vereinfachten und standardisierten IP-Transfer erarbeitet, die wir Ende 2023 veröffentlicht haben.
EINE HÄUFIG GESTELLTE FRAGE LAUTET: WAS HAT DER STAAT ÜBERHAUPT IM INNOVATIONSGESCHÄFT ZU SUCHEN?
RL: Auch hier hilft der Blick zurück in die erste Gründerzeit. Damals hatte das Kaiserreich Reparationsgelder aus dem Deutsch-Französischen Krieg Wissenschaftlern zur Verfügung gestellt, womit diese ihre Unternehmen bauen konnten. Die Wurzeln von Bayer, Daimler und BASF reichen alle in diese Zeit zurück. Alle drei waren Heavy IP
- Gründungen, die mit Millionen Reichsmark – nach heutigem Wert mehrere Milliarden Euro – ausgestattet wurden, um ihre Innovationen auf die Straße zu bringen. Gleichzeitig waren die Systeme sehr viel durchlässiger als hier und heute. Im Kaiserreich gab es herausragende Forscher, die ihre Professuren sehr wirtschaftsnah geführt haben und ihren Doktoranden den Wechsel in die Wirtschaft und zurück erleichterten. Das junge Kaiserreich löste also einen jahrzehntelangen Boom inklusive Börsenhype und -crash aus. Genauso muss der Staat heute wieder inkubieren und nebenbei Innovationshemmnisse aus dem Weg räumen. Geld ist genug da, denn der Return on Investment
wird gewaltig sein. Wir müssen einfach nur machen. Dafür allerdings braucht es den Mut des Staates, sich gewaltig aus dem Fenster zu lehnen. Unsere Agentur ist so etwas wie das Reallabor für diesen Mut.
IST SPRIND EIN DEUTSCHES PENDANT ZUR US-AMERIKANISCHEN INNOVATIONSAGENTUR DEFENSE ADVANCED RESEARCH PROJECTS AGENCY (DARPA)?
BD: Als wir vor fünf Jahren SPRIND entwickelten, war eines unserer Vorbilder natürlich die 1958 von US-Präsident Eisenhower gegründete DARPA. Diese stattet Gründer mit Finanzmitteln aus, die dann dank des US-Militärs als größtem Kunden über volle Auftragsbücher verfügten. Auf diese Weise entstanden unter anderem Spionagesatelliten, aus denen später GPS hervorging, die Vorläufer des Internets, fahrerlose Fahrzeuge, Spracherkennungssoftware und andere Sprunginnovationen, die die USA groß gemacht haben. Die DARPA war und ist ein staatlich üppigst subventionierter und atemberaubend effizienter Brutkasten. Der Mythos, der freie Markt habe das Silicon Valley hervorgebracht, ist deshalb genau das: ein Mythos.
RL: Wir haben uns die DARPA und ihren Vorgänger ARPA sehr genau angeschaut und vieles übernommen. Allerdings setzt die DARPA wesentlich früher im technologischen Entwicklungszyklus ein und hört auch früher auf. Wir engagieren uns nicht in der Grundlagenforschung, da wir in Deutschland über eine sehr gute Grundlagenforschungslandschaft verfügen. Unsere Domäne sind die angewandten Wissenschaften, also die Übersetzung von Grundlagenerkenntnissen in wirtschaftlich tragfähige Unternehmen. Wir können unsere Projekte daher sehr viel länger begleiten und sind als SPRIND mittlerweile selbst Vorbild für Länder, die ähnliche Innovationsagenturen aufbauen.
WIE HOCH SIND DIE FINANZIELLEN MITTEL, MIT DENEN SPRIND DIE INNOVATOR:INNEN UNTERSTÜTZEN KANN?
BD: Im Jahr 2022 haben wir erstmals über 100 Millionen Euro investiert, 2023 waren es 160 Millionen, 2024 werden es bereits mehr als 220 Millionen Euro sein. Das macht uns zu einem der größten Deep-Tech-Finanzierer Europas. Wir haben uns bis jetzt 2.111 Projekte angeschaut, 163 davon finanziert und 21 in Großfinanzierungen gebracht. Darin enthalten sind die derzeit 40 Teams, die durch acht SPRIND Challenges und Funken ihre Finanzierung erhalten. All diese Teams arbeiten an den großen Fragen unserer Zeit, wir können daher aus eigener Erfahrung sagen: Wir haben viele hervorragende Erfinderinnen und Erfinder!
RL: Sofern wir genug Geld bekommen, um unsere Arbeit zu finanzieren – denn unser Budget muss jedes Jahr erneut vom Bundestag freigegeben werden –, ist es schon fast zwingend, dass sich daraus in den kommenden Jahren zwei bis drei Sprunginnovationen ergeben. Spieltheoretisch könnte man sagen: Der Roulette-Tisch ist voll. Doch während es im Casino unwirtschaftlich ist, auf jede Zahl einen Chip zu legen, ist dies bei Sprunginnovationen hochwirtschaftlich. Denn ihr Benefit ist gewaltig, wie wir bei der Durchbruchsinnovation mRNA-Impfstoffen gesehen haben. Allein der BioNTech-Erfolg hat dazu geführt, dass Rheinland-Pfalz im Bundesfinanzausgleich vom Empfänger- zum Geberland aufgestiegen ist. Und diese Firma läuft ja gerade erst fünf Jahre auf Betriebstemperatur. Zu unserem Projektportfolio gehören Firmen, die an neuartigen Wirkstoffen gegen Krebs, Alzheimer und Virus-Infektionen arbeiten. Nehmen wir mal an, nur eines der Projekte hebt ab, und bedenken wir gleichzeitig, wie groß Themen wie Krebs und Alzheimer sind, dann erhalten wir eine Vorstellung, wie gewaltig der Impact einer einzigen Sprunginnovation sein kann.
IST SPRIND EIN PATENTREZEPT GEGEN DEN WEIT VERBREITETEN PESSIMISMUS?
BD: Pessimismus ist wie Angst: Es gibt Situationen, in denen beide Emotionen durchaus angebracht sind. Mitunter können sie sogar überlebensnotwendig sein. In den allermeisten Fällen aber sind sie als archaische Bremsen absolut überflüssig. Schauen wir uns die Welt an, in der wir leben: Es gibt furchtbare Probleme, aber unterm Strich bessert sich die Situation auf unserem Planeten seit 300 Jahren nachweislich signifikant. Viele große Herausforderungen unserer Zeit – Energie und Klima, Wasser, Krankheiten – lassen sich technologisch lösen. Dazu braucht es soziale Innovationen, die zum einen für den Go to Society
sorgen und so die Menschen mitnehmen und sie zum anderen auf unsere neue Welt vorbereiten: Bildung.
RL: Dass es möglich ist, sehen wir an der letzten großen Sprunginnovation, die von Deutschland ihren Weg auf die Straße gefunden hat, den mRNA-Impfstoffen. Warum haben gerade die funktioniert? Weil wir in der Corona-Krise ausnahmsweise mal Fünfe gerade sein ließen
, zwei Teams – Curevac und BioNTech – schnell mit Geld ausgestattet und die Regulatorik geändert haben. Und genau so müssen wir jetzt auch in anderen Bereichen handeln: beherzt Innovationshemmnisse beseitigen und loslegen, und das auch ohne fette Krise im Nacken. Ähnlich haben wir die Gas-Krise bewältigt. Eine Menge Regulierung und Gesetze wurden einfach außer Kraft gesetzt, um in Rekordzeit zum Beispiel die LNG-Terminals zu bauen. Geht doch!
WAS KANN JEDE UND JEDER EINZELNE BEITRAGEN, UM EINE NEUE GRÜNDERZEIT EINZULÄUTEN?
BD: Bei SPRIND-Projekten lassen wir diejenigen, die nicht tief in Pfadabhängigkeiten hängen, bestimmen, wo’s langgeht, und statten sie mit Geld aus. Dabei ist uns klar, dass die allermeisten neuen Ansätze scheitern werden. Wenn nicht die meisten scheitern, heißt es ja nichts anderes, als dass wir nicht hoch genug ins Risiko gegangen sind. Scheitern macht also nichts, solange einige Innovationen abheben. Und wir brauchen ja nur zwei bis drei neue Industrien.
RL: Deshalb lieben wir unseren Job. Wir sehen jeden Tag Innovationen, die das Zeug haben, unser Land und unser Leben zum Besseren zu verändern. Deshalb sind wir aus gutem Grund optimistisch, was wiederum eine Voraussetzung ist, um erfolgreich zu sein. Wer sich vom Pessimismus wegtragen lässt, nimmt sich seine Chancen. Schon allein deshalb sollte jeder unternehmerisch denkende Mensch über eine optimistische Grundeinstellung verfügen. Meine Bitte an die Unternehmerinnen und Unternehmer: Geht als Gastdozenten an die Universitäten! Unterstützt Forschende bei ihren Ausgründungen, erzählt von Entrepreneurship! Öffnet eure Unternehmen für Innovationen von außen, verteilt Geld in Venture Capital Fonds und setzt euch in deren Beiräte, auf dass ihr die Projektpipeline seht. Und wenn ihr dabei ein Start-up seht, das euch richtig gut gefällt: Bringt euch ein, investiert und profitiert. Unterm Strich wird es sich zigfach auszahlen; für euch, euer Unternehmen und die Gründerzeit, die vor uns liegt.